Jugendorganisationen
Ausbildung im NS-Staat
Jugend und der Krieg



Quelle zwei
Das Grundmuster jugendlicher Kriegserfahrung
Niemand, der es als Kind miterlebt hat, wird vergessen, wie zum ersten Mal die ,,Christbäume” über der eigenen Stadt standen und in Sekundenschnelle das fruchtbare Bewusstsein da war: ,,Jetzt sind wir dran!” Dann prasselten auch schon die Sprengbomben und Luftminen nieder und die Phosphorkanister stürzten herab. Es ging nur noch um Leben und Tod, nicht mehr um Wohnung und Besitz. Mit einem Schlag waren alle Menschen außer den engsten Angehörigen gleichgültig geworden. Diese Schwellenerlebnis durchlitten Millionen von Kindern und Jugendlichen. Danach war nichts mehr so wie vorher.
Anhand dieses Beispieles können wir den Versuch unternehmen, das Grundmuster kindlicher und Jugendlicher Kriegserfahrung während des zweiten Weltkrieges in Deutschland auf eine Formel zu bringen.
Ich möchte es als eine Sequenz mit charakteristischen Stufen beschreiben:

1.Stufe:
Aus dem, was man zunächst vage gehört und von anderen erfahren hat, wächst der Gedanke: Ob das nicht auch mir selbst - uns, der eigenen Familie, Vater und Mutter- geschehen könnte?

2.Stufe:
Solche Gedanken gehen im täglichen, weitgehend normalen Alltagsleben unter, werden an den Rand gedrängt, man beruhigt sich, kann nicht dauernd in Angst leben.

3.Stufe:
Die objektiven Gefahren rücken räumlich näher und

4.Stufe:
Sind plötzlich real: ,,Wir sind dran!” Nun gibt es kein Ausweichen mehr.

Diese Sequenz hat sich in den letzten Kriegsjahren in rascher Steigerung von bösen Ahnungen bis zur eintreffenden ,,neuen” Wirklichkeit unablässig wiederholt, und zwar keines Falls nur im Bezug auf den Bombenkrieg:

- von den Ängsten, von den Eltern getrennt zu werden, bis zur tatsächlichen Evakuierung, Kinderlandverschickung, Flucht,
- vor der Furcht, der Vater (Bruder, Freund usw.) könne nicht zurückkehren, bis zum Eintreffen der Todesnachricht;
- von der Angst, das eigenen Land könne Schauplatz des Bombenkampfes, von den Feinden verwüstet und erobert werden, bis zur Realität des Krieges im eigenen Land;
- von der Angst, selbst noch in letzter Stunde als Luftwaffenhelfer, Soldat oder Volkssturm in die Kämpfe hineingezogen und verwundet oder getötet zu werden, bis zur tatsächlichen Einberufung;
- von der Frucht vor den eindringenden Russen bis zur Erfahrung, dass sie jetzt tatsächlich da waren;
- von der Vorstellung, aus der Heimat vertrieben zu werden, bis zur Vertreibung selbst.
Die Inhalte sind austauschbar und variabel , aber das Grundmuster bleibt identisch: Das bislang ganz und gar Unvorstellbare rückt näher und ist auf einmal, als ob ein Vorhang durchstoßen wird, beherrschende Wirklichkeit.
Natürlich haben längst nicht alle Kinder dasselbe erlebt, und an vielen ist die schreckliche Seite der Kriegswirklichkeit gewissermaßen nur vorbeigeschrammt, dennoch war das Grundmuster allgegenwärtig. Es war unabhängig von der politischen Einstellung, es erfasste - mit vielen anderen konkreten Ausprägungen- auch Kinder, die aus antifaschistischen Familien stammten. Die etwas älteren Kinder, die schon Informationen aus Radionachrichten, Propaganda oder Gesprächen der Erwachsenen aufschnappten, erlebten noch weitere Differenzierungen, beispielsweise das Zusammenbrechen der Mythen von der Überlegenheit der deutschen Luftwaffe, der deutschen Wehrmacht, der U-Boote, des Atlantikwalls, der Festung Europa, der Vergeltungswaffen.
Grundsätzlich lässt sich das Kriegserleben der Kinder in allen Ländern, in denen der Zweite Weltkrieg tobte, unter ähnlichen Steigerungssequenzen sehen, in nicht mehr überbietbarer Weise auch das vieler jüdischer Kinder. Über viele Länder gingen die Fronten zweimal hinweg, über Deutschland nur einmal, und immerhin war Deutschland bis zum Kriegsende ein halbwegs intaktes, handlungsfähiges Staatswesen, bemüht, für die Kinder zu sorgen, während die Kinder und Jugendlichen in den besetzten Ländern eine solche Fürsorge nicht kannten und deshalb in einem viel umfassenderen Sinn schutzlose Objekte und Opfer waren. Über die jüdischen Kinder war pauschal das Todesurteil ausgesprochen.
Spiegelbildlich scheint diese Grundstruktur auch auf, wenn man nicht von Ängsten, sondern von Hoffnungen und deren sich immer neu herausstellende Vergeblichkeit ausgeht. In einem Punkte waren nämlich die Hoffnungen aller Menschen, unabhängig von Altersstufe, Nationalität und Weltanschauung, gleich: Man hoffte auf ein möglichst rasches Ende des Krieges. Diese Hoffnung wurde immer wieder enttäuscht, und zwar so oft und so nachhaltig, dass sich -etwas im Jahre 1943/44- viele junge Leute gar nicht mehr vorstellen konnten, dass der Krieg zu ihren Lebzeiten enden könne und sie wieder durch nächtlich erleuchtete Städte bummeln oder einen Beruf ausüben würden.
Dies war ein weiteres Merkmal der Seelenlage der Kriegskinder: Zukunft war nicht vorstellbar. Auch das war unabhängig von politischen Einstellungen- wenn man bei Kindern davon überhaupt sprechen will. Ganz gleich, ob am sich das Kriegsende in Form eines deutschen Sieges, eines Staatsstreiches, einer Niederlage- und nur diese war von 1943/44 an realistisch zu erwarten- oder einer Befreiung vorstellte, alles lag hinter einer schwarzen Wand verborgen, die stetig näher rückte und hinter die man nicht blicken konnte. Die Ängste wurden wie so oft durch Witze verdrängt: ,,Du hast freie Berufswahl: Steine klopfen in Alabama oder Scheiße stampfen in Sibirien.”
Kinder und Jugendliche hatten je nach Altersstufe an den Hoffnungen und deren Erschütterung in unterschiedlicher Wies teil. Man kann etwas abschätzen, dass diejenigen, die bei der Wende des Krieges etwa 12 oder 13 Jahre alt oder älter waren, diese inneren Prozesse einprägsam miterlebten, vielleicht wegen der Empfänglichkeit dieses Lebensalters sogar deutlicher als ältere Leute, denn es ging um nichts weniger als um ihre eigene Zukunft- eine Zukunft, die viele von ihnen tatsächlich nicht mehr erlebten.

Kinder als Soldaten


Ab dem 26. Januar 1945 wurden die HJ-Mitglieder als Luftwaffenhelfer einberufen. Aber schon von der ersten Stunde des Zweiten Weltkrieges an kämpften auf deutscher Seite der Front minderjährige Jungen ab 16 Jahren mit. Sie wurden mit den regulären Soldaten in die Schlacht geschickt und wie solche behandelt. Hitler wollte schließlich ein sowohl furchtlose, als auch brutale und opferbereite Jugend.
Kaum ein Jugendlicher überstand die unverstellbaren Strapazen einwöchiger Dauereinsätze, die auch den erwachsenen Soldaten erheblich zu schaffen machten,
unbeschadet. Die Kindersoldaten der ersten Kriegsjahre warn mit Begeisterung in die Schlacht gezogen: Es bedeutete für sie eine große Ehre, schon ,,dabei sein” zu dürfen. Und tatsächlich war der Kriegseinsatz zunächst nicht von allzu großer militärischer Bedeutung, sondern stellte eher eine Motivation und eine Auszeichnung dar. Doch schon bald sollte die Wehrmacht so weit dezimiert sein, dass die Einbeziehung der Jugendlichen enorm an Bedeutung gewann:
 Im zivilen Bereich hatte sie zusammen mit den Frauen die Aufgaben der Männer an der Front zu erledigen, außerdem wurden ihnen noch durch den Krieg erst entstandene Aufgaben zugeteilt wie zum Beispiel das Verteilen von Lebensmittelkarten, der Einsatz als Melder im Luftschutz.
Jungmädel und Jungvolk hatten vor allem die Aufgabe des Geldsammelns für das Winterhilfswerk, für das im Winter 1942 insgesamt rund 1,6 Milliarden Reichsmark zusammenkamen.
Die Aufgaben der Mädchen und Jungen wurden mit der Zeit angeglichen, das ursprüngliche Ideal der Entfernung von Frauen aus allen öffentliche Bereichen rückte in weite Ferne:
1940 leisteten rund 319000 Mädchen Haushaltshilfen, wobei dies durchaus noch zu den frauentypischen Arbeiten zu zählen ist, 64000 arbeiteten beim roten Kreuz, 60000 betreuten Verwundete in den Lazaretten, 100000 waren im Bahnhofsdienst eingesetzt und 3500 als Flugmeldehelferinnen.
Es ist gut vorstellbar, dass die Mädchen, insbesondere die, die in den Lazaretten verwundete Soldaten betreuten oder Flugmeldehelferinnen waren, unter dem Kriegeinsatz ebenso litten wie die Jungen, auch wenn sie nicht direkt an die Front mussten.
Ab 1945 wurde auch der BDM zum Volksturm abkommandiert. Gruppen vielleicht 15 Jahre alter Jungen und Mädchen hatten sich unter Bombenhagel durch ihre zerstörten Heimatstädte zu kämpfen um vielleicht doch noch das ein oder andere feindliche Flugzeug abschießen zu können. Es sind zwar zu keiner Stadt genaue Zahlenangaben zu finden, aber jeder der in diesen letzten Wochen des Krieges noch gefallene Jugendliche ist einer zu viel. Man schickte diese Kinder in den Tod für einen Krieg, der faktisch nicht mehr zu gewinnen war.

Aber auch wer nicht direkt teilnahm, weil er entweder noch zu jung war oder schlicht Glück hatte, hatte unter den Folgen des Krieges erheblich zu leiden. Und selbst wer im Krieg noch keine Angehörigen oder Freunde verloren hatte, nicht ausgebombt und noch nicht von den Eltern getrennt war, für denn waren dennoch die Invasion der feindlichen Truppen und die anschließenden Nachkriegsjahre harte Zeiten:
Während der feindlichen Invasion zum Ende des Krieges hin wurde die Bevölkerung der eroberten Städte teils gefangen genommen, Besitztümer wurden beschlagnahmt und unzählige Mädchen und Frauen vergewaltigt.
In der Nachkriegszeit starben zahlreiche Kinder an Unterernährung. Während die Väter immer noch nicht nach Hause zurückkehrten, weil sie vielfach in Kriegsgefangenschaft geraten waren, mussten die Frauen und Jugendlichen wieder aufbauen, was der Krieg zerstört hatte.
Unter einem Krieg mit den Ausmaßen des Zweiten Weltkriegs hat immer die gesamte Bevölkerung zu leiden, doch die Kinder und Jugendlichen trifft es meist am härtesten: Nichts kann schlimmer sein, als die Gewissheit, zwar noch ein ganzes Leben, aber keine Zukunft mehr vor sich zu haben.




Die Hitlerjungen und BDM-Mädchen der dreißiger und vierziger Jahre sind heute unsere Großeltern. Hat sich die Erziehung durch die Nationalsozialisten auf ihr späteres Leben ausgewirkt oder haben sie sie nach Kriegsende ,,vergessen”?
Als die jüdischen Kinder die Schulen verlassen mussten, waren die Reaktionen der restlichen Schülerschaft in der Regel recht gering.
Dies mag folgende Gründe haben:
- Bevor man die Kinder endgültig vom Unterricht ausschloss, wurde in ihrer Anwesenheit monatelang gegen die Juden gehetzt. Möglicherweise hätten die Schüler anders reagiert, hätte man ihnen den Antisemitismus erst nach dem Ausschluss der jüdischen Kinder eingetrichtert.
- Freundschaften zwischen jüdischen und ,,arischen” Kindern sollten verhindert werden, indem man auch gegen die Freunde der Juden massiv hetzte.
- Mit der Zeit wurden die ,,arischen” Kinder von der Hitlerjugend soweit vereinnahmt, dass die meisten Freundschaften zu Juden schon ohne die Rassenideologie zerbrochen wären: Man hatte nicht nur keine Zeit, sondern auch keine oder sehr wenige Gemeinsamkeiten mehr.
- Die Angst vor Konsequenzen tat ihr übriges.
Davon abgesehen erfassten viele Kinder, aber auch Jugendliche den Ernst der Vorgänge nicht. Doch obwohl sowohl die Massenmorde nur sehr halbherzig geheim gehalten wurden, will keiner davon gewusst haben. Hier besteht kaum Unterschiede zwischen dem Verhalten der Kinder und der Erwachsenen. Aber während für Erwachsene die zwölf Jahre des Nationalsozialismus unter Umständen nur eine Phase ihres Lebens waren, hatten die Kinder und Jugendlichen 1945 ihr bis dahin gesamtes Leben inklusive der prägendsten Jahre im NS-Regime verbracht. Sie standen nach Kriegsende vielfach mit leeren Händen da: Neben den materiellen Verlusten und dem vielfachen Tod von ihnen nahe stehenden Menschen hatten sie auch ihren Glauben an Hitler und seine Ideologie verloren, der ihnen zuvor alles bedeutet hatte.
Auf einmal sollte der Führer ein Verbrecher sein, auf einmal war der Hitlergruß verboten…
Wie die Kinder und Jugendlichen damit umgingen und wie viel von der nationalsozialistischen Ideologie dauerhaft in ihrem Gedächtnis eingebrannt blieb, hängt sicher unter anderem auch ganz entscheidend von ihrem Alter ab:
- Vor 1920 geborene Kinder
Bereits 1921 gründeten sich innerhalb der NSDAP erste Jugendgruppen. Ihre Mitglieder waren größtenteils junge Männer zwischen 18 und 20 Jahren. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit (21 Jahre) wechselten sie zu den regulären NSDAP-Gruppen. Das Motiv ihrer Mitgliedschaft war auf jeden Fall die volle Überzeugung vom Nationalsozialismus, denn andere Anreize, sich den Nazis anzuschließen, gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ob es sich doch wirklich um die nationalsozialistische Ideologie als Beweggrund handelte oder ob es ,,nur” darum ging, Teil einer revolutionären Bewegung zu sein, ist dagegen nicht sicher zu beurteilen. Zu diesem Zeitpunkt allerdings waren die Ausmaße der Jugendgruppen noch recht gering.  Während der ,,goldenen Zwanzigerjahre” ging es einem großen Teil der deutschen Jugend schlicht zu gut, um sich mit Dingen wie der Politik auseinanderzusetzen.
Diejenigen allerdings, denen es entweder finanziell nicht gut ging, oder die - in vielen Fällen auch durch ihre rechtskonservativen Eltern beeinflusst- immer noch die Meinung vertraten, der Versailler Vertrag  sei eine untragbare Schande und das deutsche Reich der wahre Sieger des ersten Weltkrieges, fanden in der NSDAP-Jugend zahlreiche Gleichgesinnte. Mit dem Verbot der NSDAP fielen einige Mitglieder zwar wieder vom ,,Glauben an den Nationalsozialismus” ab, der weit größere Teil erreichte jedoch im Laufe des Regimes höhere Parteiposten oder blieb zumindest seinem ,,Führer” bis zuletzt treu.
Die einige Jahre später geborenen Jungen fanden in der Hitlerjugend bereits eine Massenorganisation vor und könnten unter Umständen auch ohne wahre Begeisterung für die Ideologie des Jugendverbandes eingetreten sein. 
Alle diese Jugendlichen haben jedoch die Weimarer Republik noch bewusst miterlebt. Warum haben sie sich für den Nationalsozialismus entschieden?
Wahrscheinlich sehen die Gründe nicht sehr viel anders als die der Erwachsenen für die Wahl der NSDAP:
- Innerhalb von kurzer Zeit (erster Weltkrieg und 1929 die Weltwirtschaftskrise) hatte die Bevölkerung ihre gesamten Ersparnisse verloren, die Arbeitslosigkeit stieg stetig an und erreichte ihren Gipfel bei einer Quote von über einem Drittel der Gesamtbevölkerung.
- Die Nationalsozialisten versprachen im Gegensatz zu ihren politischen Gegnern schnelle Lösungen für alle Probleme und sprachen mit ihrem Parteiprogramm alle Bevölkerungsgruppen an.
- …
Für die Jugendlichen und Kinder kamen noch folgende Gründe hinzu:
- Die Hitlerjugend bot Abenteuer, Perspektiven und einen ,,Sinn”, eine Aufgabe für das eigene Leben.
- Die Weimarer Republik empfanden viele als verstaubt und spießig, die Zukunft stellten sie sich anders vor.
- Besonders die Kinder wurden oft von ihren Eltern mitgerissen, während Jugendliche sich Jugendliche oftmals mit der HJ-Mitgliedschaft bewusst von der politischen Einstellung ihrer Eltern distanzierten.

- Die zwischen 1920 und 130 geborenen Kinder
Als Baldur von Schirach das Jahr 1936 zum ,,Jahr des deutschen Jungvolks” ausrief, hatten nahezu alle Jungen und Mädchen des Jahrgangs 1926 in die Hitlerjugend einzutreten. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war die Mitgliedschaft keine Sache der Überzeugung mehr, sondern eine Selbstverständlichkeit. Die Überzeugung stellte sich jedoch bei den meisten Kindern rasch ein, kein Wunder, wurde das nationalsozialistische Gedankengut ihnen doch Tag für Tag eingebläut. Viele Kinder werden auch daran gezweifelt haben, aber faktisch änderte das wenig an ihrer Mitgliedschaft, höchstens an der Begeisterung, mit der sie bei der Sache waren. Hier gibt es auch wieder große regionale Unterschiede, da es teils auch HJ-Gruppen gab, die die nationalsozialistische Schulung eher schleifen ließen.
Zahlreiche Kinder der Jahrgänge 1920 bis 1930 mussten den zweiten Weltkrieg noch als Soldaten miterleben. Hier stellte sich bei einigen noch so etwas wie ein ,,böses Erwachen” und eine Abkehr vom ,,Führerglauben” ein. Viel genützt hat ihnen das zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht, weitergekämpft wurde trotzdem.
Genau wie bei den Erwachsenen gab es ein zweites ,,böses Erwachen” noch einmal nach Kriegsende, als die gesamten Verbrechen der Nationalsozialisten offen dargelegt wurden und es keine Chance des ,,Übersehens” mehr gab.

- Nach 1930 geborene Kinder
Nach 1930 zur Welt gekommene Kinder haben in ihrer Kindheit und Jugend niemals etwas anders kennen gelernt als den Nationalsozialismus. Es ist schwer vorstellbar, dass sie nach 1945 sofort alle nationalsozialistischen Ideologien aus ihrem Kopf verbannen konnten.

Das Elend in den Nachkriegsjahren dürfte jedoch viele, gerade junge Menschen, erkennen lassen haben, was das NS-Regime in Deutschland und in Europa angerichtet hatte. Hitler wurde vielfach vom Idol zum Feindbild, auch, weil er Selbstmord beging und sich somit der Verantwortung entzog. Natürlich gab  es trotzdem  immer noch Menschen, die ihn auch nach seinem Tod verehrten.
Der zweite Weltkrieg verschonte kaum jemanden, die Jugend traf es jedoch mit am härtesten: Gewählt hatten Hitler letztendlich ihre Eltern. Aber sie -und eben nicht ihre Eltern- hatten nach dem Ende des Regimes alles verloren, woran sie geglaubt hatten und obendrein noch ihre Jugend entweder im Krieg oder im Nachkriegsdeutschland verbringen müssen.

(Abschließend lässt sich sagen, dass ich im Prinzip keine Ahnung habe, ob die HJ-Jungen und BDM-Mädchen, also die Großeltern von heute, mitschuldig waren oder nicht.)

Quelle drei
Zwischen Anklage und Verteidigung
Kriegskinder aus der Sicht der Nachgeborenen
Der Generation der Kriegskinder ist- zumindest in der politischen Öffentlichkeit- das Mitgefühl mit sich selbst schwer gemacht worden. Ihr Leiden unter den Kriegsfolgen konnte nicht einfach als privates Schicksal gewürdigt und betrauert werden, isoliert vom historischen und politischen Zusammenhang, der es verursacht hatte: dem auf Weltherrschaft abzielenden Vernichtungskrieg eines Regimes, das zumindest bis zum Zeitpunkt der ersten großen Niederlagen das Einverständnis der Bevölkerungsmehrheit hatte. So werden in der öffentlichen Betrachtung die privaten Briefe, Tagebücher, Schulaufsätze und andere Dokumente des Alltagslebens der NS-Zeit oft ausschließlich auf den politischen Kontext bezogen. Der Einzelne wird- weit mehr, als es in ,,Normalzeiten” gilt- als Zeitgenosse, sein persönliches Schicksal auf die Verbindung zur politischen Sphäre hin betrachtet:
Was lässt sich in den Briefen als direkter oder indirekter Hinweis auf Zustimmung oder Ablehnung des NS-Regimes deuten; wo finden sich Indizien für Loyalität gegenüber dem Regime; welche Verbrechen finden keine Erwähnung; wo fehlen moralische Erwägungen angesichts der eklatanten Verstöße gegen zentrale christliche, rechtsstaatliche und humane Normen?
Die überwiegend negativen, oft von heftiger Empörung getragenen Reaktionen der älteren Generation auf die Ausstellung ,,Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehmacht 1941-44” haben gezeigt, wie wenig sich die meisten in dieser politischen Beurteilung ihres Verhaltens während der NS-Zeit wieder finden. Zwar werden das Regime insgesamt und vor allem die Führungsriege auch von den meisten Älteren verurteilt und abgelehnt. Richtet man jedoch das Augenmerk auf den einzelnen Menschen in seiner Mitbeteiligung und Mitverantwortung für das Funktionieren des Nationalsozialismus, so erleben sich die meisten als nicht betroffen. Der aktive Beitrag wird eingeschränkt auf die überzeugten Nationalsozialisten, die aktiven Mitglieder der Partei oder einer ihrer Unterorganisationen. Wird- wie in der Wehrmachsausstellung- der Beitrag des Militärs und die Rolle der einzelnen, ,,normalen” Soldaten in ihrer Beteiligung an den NS-Vernichtungsaktionen betrachtet, so fühlt sich eine Mehrheit der damaligen Soldaten wie ihrer Angehörigen ausgesprochen ungerecht behandelt. Sie sieht sich von einer selbstzufriedenen Generation, die nichts weiß von den Schwierigkeiten, Entbehrungen und Zwängen in Krieg und Diktatur, völlig zu Unrecht auf die Anklagebank gesetzt. Nach dem Krieg wurde gegenüber den nachfragenden Kindern immer wieder auf die ,,schweren Zeiten” verwiesen, von denen wir in Wohlstand und Sicherheit Aufgewachsenen uns keine Vorstellung machen könnten. Tenor war: Ihr habt es gut, wir hatten es schlecht. Ihr könnt nicht mitreden, weil ihr nicht dabei gewesen seid.
Die Briefe der Soldatenväter zeigen uns in ihrer großen Mehrheit um das Wohlergehen ihrer Kinder und Frauen äußerst besorgte Familienväter, die ihrer Kriegsteilnahme als Pflicht begreifen und die Heimat schützen wollen, sich alle Mühe geben, den Kindern ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit auch in den Kriegswirren zu vermitteln.
Auch die Nachgeborenen möchten sich gerne abkehren von der Konzentration auf die Terrorseite der NS-Zeit und ihre Eltern und Großeltern in das mildere Licht persönlicher Erinnerung tauchen. Es ist für die meisten Angehörigen der Nachfolge-Generation ebenso unmöglich wie für die Zeitgenossen selber, sich der Täterschaft ihrer Eltern oder Großeltern zu stellen. Bei den meisten überwiegt die Hoffnung, dass sich die Eltern nichts haben zuschulden kommen lassen, und dieser Wunsch bestimmt die Wahrnehmung der elterlichen Vergangenheit. Untersuchungen über den Umgang mit der NS-Vergangenheit der Eltern zeigen- ganz im Gegensatz zu dem Bild der 68er-Generation in der Öffentlichkeit, das Härte, Mitleidlosigkeit, unnachgiebige Anklagehaltung zeigt-, dass Verleugnungen, Entschuldigungen und Nicht-wissens-wollen auch die Haltung der Nachgeborenen prägen. Dies Haltung schützt unser Verhältnis zu den Eltern, erspart Konflikte. Auch für die nachfolgenden Generationen ist es viel einfacher und tröstlicher, Eltern oder Großeltern als Opfer von Krieg, Entbehrung und Not zu sehen, oder die Briefe nostalgisch und gerührt als Dokumente der guten alten Zeit zu lesen, in der körperliche Anstrengung und Arbeit, Charaktertugenden, klassische Kultur, Benimmregeln, Pflicht und Ordnung noch einen ganz anderen Stellenwert hatten.
Es wäre aber sehr schade, die zeitgeschichtlichen Bezüge dieser privaten Äußerungen nicht zu sehen und den Blick so zu verengen, dass die Briefe nur den unpolitischen NS-Zeitgenossen sichtbar werden lassen. Vielleicht ist es doch möglich- ohne in den Mechanismus von Anklage und Verteidigung zu verfallen-, beim Lesen der Briefe die Frage zu stellen, ob sie zur Lösung des Rätsels beiragen können, wie es möglich war, dass diese anständigen, liebevollen Menschen das NS-Regime und seinen Krieg bis zum bitteren Ende loyal mitgetragen haben. 

 

Hier gibt es Zeitzeugenberichte.